Gemäldegalerie Dresden Vermeer
Ein Meisterwerk in neuem Licht
Die Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden beherbergt mit Johannes Vermeers „Brief lesendes Mädchen am offenen Fenster“ eines der berühmtesten Werke des Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei. Das Gemälde, entstanden um 1657–1659, zählt zu den Highlights der Sammlung und war über Jahrhunderte hinweg ein Sinnbild für Intimität, Feinmalerei und das Spiel von Licht und Raum. Doch was viele Besucher nicht ahnten: Das Bild trug jahrzehntelang Spuren früherer Übermalungen und Restaurierungen, die das ursprüngliche Erscheinungsbild wesentlich veränderten. Erst eine umfassende Restaurierung in den Jahren 2017 bis 2021 brachte das Werk in nie gekannter Frische und mit erstaunlichen neuen Erkenntnissen zurück ans Licht der Öffentlichkeit.
Die Ausgangslage: Ein verborgenes Motiv
Bereits im 20. Jahrhundert war bekannt, dass das Gemälde Veränderungen erfahren hatte. Röntgen- und Infrarotuntersuchungen zeigten unter der sichtbaren Farbschicht eine verborgene Darstellung: Im Hintergrund, an der Wand hinter dem lesenden Mädchen, befand sich ursprünglich ein großes Bild eines nackten Cupido. Dieses Motiv war jedoch mit einer neutralen, grünlichen Wandfarbe überdeckt worden. Lange Zeit nahm man an, Vermeer selbst habe diese Übermalung vorgenommen, um die Szene intimer wirken zu lassen. Neuere Untersuchungen stellten diese Annahme jedoch infrage und wiesen darauf hin, dass die Übermalung erst Jahrzehnte nach Vermeers Tod erfolgt war – vermutlich, um das Gemälde dem Geschmack späterer Jahrhunderte anzupassen.
Restaurierung: Technik, Forschung und Mut zur Veränderung
Vor Beginn der Restaurierung stand das Team der Dresdner Gemäldegalerie vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte man die Übermalung entfernen und das ursprüngliche Bild freilegen? Umfangreiche naturwissenschaftliche Analysen, kunsthistorische Recherchen und der internationale Austausch mit Fachkollegen führten schließlich zu dem Entschluss, das Werk im Sinne Vermeers wiederherzustellen. Unter dem Mikroskop, mit Skalpell und feinsten Pinseln, wurden die späteren Farbschichten Schicht für Schicht abgetragen. Dabei zeigte sich, wie meisterhaft Vermeer den Cupido in die Komposition integriert hatte – als bewusst gesetztes Symbol für die Deutung des Briefes als Liebesbotschaft.
Ein neues Seherlebnis: Wirkung und Bedeutung
Mit der Freilegung des Cupidos änderte sich die gesamte Wirkung des Gemäldes. Die Szene erscheint nun offener, weniger zurückgezogen, und erhält eine neue erzählerische Ebene: Der Liebesgott im Hintergrund macht deutlich, dass der Inhalt des Briefes romantischer Natur ist. Damit wird das Werk zu einem Schlüsselbild für Vermeers raffinierte Bildsprache, in der scheinbare Alltagsmomente aufgeladen sind mit subtiler Symbolik. Die Restaurierung wurde von der internationalen Fachwelt gefeiert und stieß auch beim Publikum auf großes Interesse. In einer vielbeachteten Sonderausstellung präsentierte die Gemäldegalerie das restaurierte Meisterwerk 2021 erstmals in seinem neuen, alten Glanz.
Bedeutung für die Museumslandschaft
Die Restaurierung von Vermeers „Brief lesendes Mädchen“ steht exemplarisch für die Möglichkeiten und Herausforderungen moderner Konservierung. Sie zeigt, wie eng Restaurierung, Kunstgeschichte und naturwissenschaftliche Analyse heute verzahnt sind – und wie mutige Entscheidungen neue Perspektiven auf jahrhundertealte Meisterwerke eröffnen können. Für die Gemäldegalerie Dresden bedeutet das Gemälde nicht nur einen Höhepunkt der Sammlung, sondern auch ein Beispiel für verantwortungsbewussten Umgang mit dem europäischen Kulturerbe. Die gelungene Restaurierung trägt dazu bei, den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart lebendig zu halten und die Faszination der alten Kunst für kommende Generationen zu bewahren.